Wer grüsst wie?
1. Winterfahrer und Weicheier Winterfahrer und Weicheier: Unter ähnlich harten Bedingungen sind heute nur noch die Winterfahrer unterwegs. Motorradfahrer sind entweder Winterfahrer oder Weicheier. Weicheier trifft man im April im Straßenverkehrsamt, wo sie ihre stillgelegten Maschinen wieder anmelden. Winterfahrer dagegen fahren durch. Ihre Zahl ist klein. Treffen sich zwei Winterfahrer, ist die Freude groß. Von April an grüßen Winterfahrer nicht mehr. Winterfahrer grüßen keine Weicheier. Weicheier erkennt man daran, daß sie in den ersten Frühlingswochen wie wild und beidhändig alles grüßen, was sich auf 2 Rädern bewegt. Vor lauter Aufregung vergessen sie dann oft, daß da vorne eine Kurve kommt. Sie haben immer frische Unterwäsche an – man könnte ja im Krankenhaus landen.
2. Die Coolen: Lümmeln meist gekonnt in stundenlang eingeübter Pose mit dem Ellenbogen auf dem Tank. Gern werden dabei auch nur die äußersten Fußspitzen auf die Rasten gestellt, so dass es zum so genannten "Froschlümmeln" kommt. Kommt dann ein Motorradfahrer entgegen, geht die Hand (2 Finger meist ausgestreckt) lässig in Richtung Helm, ein kleines Nicken noch und der Lümmler fällt zurück in die Ausgangsposition.
3. Die Schüchternen: (aber auch die Dankbarsten) Unsicher warten sie auf ein Zeichen. Keinesfalls möchten sie sich blamieren, indem sie grüßen und der andere es vielleicht nicht erwidert. Wird der Schüchterne allerdings zuerst gegrüßt ist die Freude groß und dankbar grüßt er zurück, oft mit vollem Körpereinsatz, Nicken, Hand, Fuß oder auch mit Zuruf und das alles gleichzeitig.
4. Die Immer-Grüßer: Nach dem Motto "komme was wolle, ich grüß immer" zieht er seine Runden. Und das meint er völlig ernst. In Schräglagen, die Kniepads schleifend, die Fußrasten sitzen auf, viel Verkehr, eine Ölspur voraus? Kein Problem, es wird in jedem Fall gegrüßt, schließlich wurde es jahrelang bis zur Perfektion geübt! Der Immer-Grüßer nimmt auch keinerlei Rücksicht auf Typ, Marke, Alter des entgegenkommenden Motorrades. Alles was zwei Räder hat, beschenkt er mit kollegialer Aufmerksamkeit.
5. Die Vielleicht-Grüßer: Die Vielleicht-Grüßer, auch Vigrüß genannt, beäugen erst skeptisch das Vehikel des Grüßungsanwärters. Wenn alles dem wachsamen Auge des Vigrüß Zustimmung findet, sprich, es ist das richtige Krad, die richtige Kleidung, das richtige Tempo, die richtige Lautstärke usw. wird anerkennend gegrüßt. Nur ist es dann meist zu spät und der andere längst über alle Berge.
6. Die Abklatscher: (oft Enduristen) Meist verbergen sich darunter echte Frohnaturen und Entertainer. In der Schule oft der Klassenclown gewesen, bemühen sie sich auch auf Straße dieses Image beizubehalten. Dass sie durch ihre ruckartigen und ausholenden Bewegungen zuweilen andere Biker verschrecken, die ein Angriff auf Leib und Leben befürchten, stört sie nicht weiter. Wenn es nach ihnen ginge, würden sie jedem Entgegenkommenden persönlich die Hand schütteln.
7. Die Augenzwinkerer: (oft Anfänger) Unsicher, die beiden Hände fest an den Lenker geklammert, vollauf beschäftigt mit Gas, Bremse und Kupplung, versuchen sie durch kräftiges Augenzwinkern das Grüßen zu erwidern. Sehr Mutige spreizen auch schon mal den ganzen kleinen Finger vom Lenker ab und freuen sich dann wie die Schneekönige über die geglückte Aktion.
8 .Die um des Grüßens-Willen-Fahrer: (Grüwis) Ein echter Hardcoregrüßer. Meist nur bei schönem Wetter anzutreffen (bei Regen gibt es ja weniger die man grüßen könnte) schleicht er langsam durch die Gegend, um ja keinen Grußkandidaten zu übersehen. Vor der Tour wird noch die am stärksten frequentierte Motorradstrecke ausgeguckt und los geht’s. Potentielle Grußopfer so weit das Auge reicht. Der Grüwi ist in seinem Element. Wenn er abends nach Hause kommt und die linke Hand schmerzt, war es ein guter Tag. Wenn sie nicht schmerzt, dürfen seine Mitmenschen das ausbaden und sich tagelang Triaden anhören, daß das Motorradfahren nicht mehr das ist, was es einmal war; ja früher war alles besser, früher war alles gut, da hielten noch alle zusammen …….. da wurde man noch gegrüßt!
9. Die Nichtgrüßer: (oft Wehrdienst- oder Totalverweigerer) Stur den sonnenbebrillten Blick geradeaus gerichtet, verweigert er zivilen Gehorsam und den Bikergruß. Sein Haupt krönt oft ein Jethelm. Er ist ein Rebell, ein Individualist, ein James Dean der Biker, der sich in keine Schublade stecken lassen will. Meist hatte er eine dominante Mutter. Unbeugsam trotzen sie allen Regeln, schließlich waren alle anderen noch Quark im Supermarktregal oder ein Glitzern im Auge von Papa als er längst eine Harley sein Eigen nannte.
10. Die Streetfighter In keine Kategorie einzuordnen waren die Streetfighter. Meist Psychopathen, das Visier schwarz wie ihre Seele, oft mit Totenkopfairbrush auf dem Helm, winken sie nach Gutdünken wenn sie gut gelaunt sind oder das Gegenüber grüßwürdig empfinden. Ihre Grüße werden immer erwidert. Allerdings mehr aus Angst, das dieser Soziopath bei Verweigerung ’ne Knarre zieht und sich rächt.
11. Der verbotene Gruß Das Motorradgrüßen ist stark reglementiert und wird von Anfängern zu Recht als sehr kompliziert angesehen. Es ist umlagert von allerlei Ge-und Verboten. Das bekannteste Verbot lautet: Grüße nie ein Einspurfahrzeug, das weniger als 250 ccm Hubraum hat, so etwas ist keinMotorrad! Wer fahrlässig Motorroller, Klein – oder Leichtkrafträder grüßt, verliert sein Gesicht und jegliche Selbstachtung.
12. Der Autobahn – Gruß Ungeregelt und darum praktisch nicht existent ist die Motorradgrußkultur auf der Autobahn. Nicht einmal erfahrene Motorradfahrer können sagen, ob man entgegenkommende Motorräder über sechs Spuren und einen Grünstreifen hinweg grüßen muß. Fahrtechnisch problematisch wird das Grüßen beim Überholen. Die klassische Grußhand, die Linke, wird vom Überholten nicht gesehen. Grüßt man mit der Rechten und nimmt dazu die Hand vom Gasgriff, bremst die Maschine ab – fatal beim Überholen. Absurde Verrenkungen sind auf unseren Autobahnen zu beobachten, wenn Motorradfahrer versuchen, mit der Linken vorn am Körper vorbei nach rechts zu grüßen. Uneingeweihte Autofahrer tippen auf Heuschreckenschwärme oder Unterarmkrampf. Der Autobahngruß ist eben gerade mal so jung wie die Autobahn und kennt kaum Traditionslinien. Zu Konflikten kommt es auch, wenn man den deutschen Grußkulturraum verläßt.
So sind deutsche Motorradfahrer in Italien verwirrt und erbost, weil dort partout niemand gegrüßt wird. Nicht einmal ein alter Schrauber! Die Erklärung: Der "italienische Gruß" besteht in einem für unser Auge nicht wahrnehmbaren Zucken des linken kleinen Fingers. Solche Mißverständnisse führen zu dem Vorurteil, italienische Motorradfahrer seien unfreundlich und arrogant. Ein Desiderat der Grußkulturforschung! In Deutschland gilt das minimalistische "italienische Grüßen" als verpönt. Man verachtet das furchtsame Festhalten am Lenker. Diese Haltung ist nicht unproblematisch. Wenn man beim Auto die Hand vom Lenkrad nimmt, fährt es geradeaus weiter. Läßt der Motorradfahrer den Lenker los, fällt die Maschine über kurz oder lang um. 13. Der Heizer – Gruß Der ‚Heizergruß‘ in extremer Schräglage (ein Knie berührt den Asphalt) gilt als sehr riskant. Er wird allgemein als Nachweis hoher Fahrkunst angesehen, aber man sollte vorher trotzdem frische Unterwäsche anziehen. Heiz-Grüßer fahren nur auf der äußersten Profilrille und vergleichen, wer die spitzesten Fußrasten vorweisen kann. Wer die Kunst des Heizergrußes nicht beherrscht und dennoch ausübt, riskiert seinen letzten, den sogenannten ‚goldenen Gruß‘.
14. Ein Spezialfall: Okdtimer Ein Spezialfall: Oldtimer. Oldtimer werden grundsätzlich freudig und bewundernd gegrüßt, unabhängig vom Hubraum. Oldtimer werden meist von technisch versierten älteren Fahrern gefahren, sogenannten ‚alten Schraubern‘. Solchen wird Respekt gezollt. Trifft man alte Schrauber, wartet man, ob sie grüßen. Von Frühling bis Herbst grüßen viele nicht, weil sie Winterfahrer sind – Winterfahrer grüßen keine Weicheier. 15. Der Anfänger Es hat den Anschein, als ob er ein Motorrad führen könne (daher die Bezeichnung "Führerschein"). Begeistert über das noch feuchte Druckerzeugnis grüsst er enthusiastisch alles, was zwei Räder besitzt. Einen halben Kilometer zuvor hat er brereits mit wildem rudern des gesamten linken Oberkörpers begonnen, getrieben einerseits von dem Stolz, seit kurzem der grossen Bikerfamilie anzugehören, andererseits von der Angst, er könne den Ausdruck seiner innigen Verbundenheit mit anderen übersehen. Während er auf seiner amtlich asthmatischen Mühle entgegen eiert, kann man seine freudig geweiteten Augen hinter dem hyperventilationsbeschlagenem Visier erkennen. Auf gleicher Höhe reisst ein Adrenalinschub seine Pupillen vollends auf Handtellergrösse und man sieht ihn im Rückspiegel die Böschung hinab verschwinden. Er hätte in der Fahrschule vielleicht doch einhändiges Spitzkehrenfahren üben sollen…. 16. Der Fortgeschrittene Diese Spezies hat die Anfängerphase überlebt. Dennoch sitzen die Grussreflexe noch nicht ganz. Mit gezogener Kupplung rollt der Kollege an der roten Ampel neben andere Biker und grinst so breit herüber, dass sich sein Integralhelm weitet. Während er mit der Rechten seinen Motor auf Touren hält, hebt er abrupt die Linke zum Gruss, was sein Bike motiviert, Drehmoment in Wheelie zu verwandeln und den erschrockenen Reiter in die Mitte der Kreuzung zu katapultieren, wo er sich vor quietschenden Autorädern gekonnt aufs Maul legt. Die Ampel schaltet auf grün und der andere Biker rollt an ihm vorbei, während er sich unter seinem Moped abstrampelt und sich gerade am Auspuff verbrennt. Der vorbeifahrende Biker hebt höflich die Hand denn es wäre unhöflich, einen so netten Kollegen nicht zu grüssen. 17. Der Tiefflieger Zur Freude seines Orthopäden hat er sich die neueste … zugelegt, dazu einen sündhaft teuren Kefir Kombi von Langnese mit Edelstahl-Protektoren, deren Gewicht ihn wenig ergonomisch, aber energisch auf sein Playmobil quetscht. Sein Helm ist mit einem diskreten Kehlkopfstrecker ausgerüstet, damit der Tiefflieger wenigstens bis zum nächsten Leitpfosten schauen kann. So sieht er andere erst im letzten Augenblick und spreizt zum Gruss den kleinen Finger seiner linken Hand ab, was zwar cool aussieht, aber eher der Tatsache geschuldet ist, dass er keine Hand vom Lenker nehmen darf, will er nicht mit dem Helm in den Zundschlüssel einschlagen. Nur ein einziges Mal hat der Tiefflieger versucht, mit dem Fuss zu grüssen. Eein ausgekugeltes Handgelenk liess ihn schnell und reumütig zum kleinen Finger zurückkehren. 18. Der Markenkollege Noch ist er nur ein Punkt am Horizont, doch schon fühlt man seinen stechenden Blick auf Tank und Seitendeckel des Motorrades. Ohne Passanten oder Querverkehr zu beachten, fixiert er das Bike. Kurzsichtig wie er ist, fährt er den anderen fast über den Haufen und erkennt die Marke erst in Riechweite. Dann aber reisst er blitzschnell den gestreckten Arm in die Höhe, da er fürchtet, man würde den Gruss nicht mehr sehen und das könnte er sich natürlich nicht verzeihen, müsste wenden, in fliegender Hast überholen, erneut wenden und dann nochmal deutlich von weitem zu grüssen, wobei er Gefahr liefe, einem falschen und unmöglichen Motorrad zuzuwinken, das ebenfalls vielleicht überholt hatte. Das könnte er sich natürlich erst recht nicht verzeihen, würde nächtelang mit Magenschmerzen wachliegen und könnte die Schmach erst tilgen, wenn er im Klepper-Gore-Tex-Zweiteiler auf Knien von Spandau nach München gerutscht wäre. 19. Der Freebiker Das erste was man von ihm sieht ist das Vorderrad, links und rechts flankiert von nach oben spitz zulaufenden Schuhsohlen. Tief unten geht die undichte Ölwanne seines Zweizylinders nahtlos in zwei schnürlederbespannte Arschbacken über. Ob der Freebiker grüsst, weiss niemand, dann das Wackeln seines Kopfes kann auch vom Starrahmen seines Bikes herrühren, das vor dem Krieg gebaut wurde. Vor dem Bauernkrieg! Auch das ständige hochschnellen der hand zum Schirm seiner Ledermütze ist eher das Bemühen, ihren Verlust im Fahrtwind zu verhindern, obwohl sie doch mit Pattex in den fettigen Haaran fixiert wurde. Dennoch besitzt der Freebiker den viertan Dan im Gruss-Sport, allein seines Blickes wegen, der einer ausgeräumten Schrankwand gleicht und dessen Stoizität sich auch nicht durch zerschüttelte Nieren und verschobene Lendenwirbel beeindrucken lässt. 20. Der Gespannfahrer Ab November wird gegrüsst. Bis zum 28. Februar. In Schaltjahren bis zum 29. Der Grusskalender wird digital im Cockpit angezeigt, im Beiwagen warnt eine rote Blinkleuchte in den restlichen acht Monaten den Passagier vor unbedachtem Gewinke. Daher muss vor voreiligen Schlüssen gewart werden: Wenn ein entgegenkommender Gespannfahrer auch im Juli die Hand vom Lenker hebt, grüsst er noch lange nicht – er verbrennt sich lediglich gerade die Pfoten, da die Heizgriffe auf voller Leistung laufen, weil Heizgriffe eben zu einem Gespann und seinem harten Treiber gerhören. Ebenso übrigens wie Heizvisier, Heizstiefel, heizbare Sitzbank und beheizbare Unterhosen. Dass die Lichtmaschine eine Kernschmelze erlitt, stört den Gespannfahrer nicht mehr, seit er mit dem Seitenwagenrad einen 80-Kilowatt-Generator antreibt, den er günstig erworben hat. Von dem Überlebenden eines Basiscamps im Packeis. Man könnte meinen die Heftigkeit des Gespannfahrer-Grusses in den Wintermonaten sei umgekehrt proportional zur Aussentemperatur. Doch weit gefehlt: Im Winter hat es kalt zu sein. Der Dreirad-Pilot ignoriert, dass es seit Jahren nicht mehr schneit, schnallt am 1. Advent die Kniedecke um und rasselt auf Schneeketten einher, nachdem er sein Gefährt gegen Salzfrass mit Walrossfett überzogen hat. Mit Ausnahme des Crystal-Rallye-Aufklebers natürlich, den er regelmässig putzt, zumal es nicht billig war, ihn sich aus Norwegen schicken zu lassen. So leuchten seine Augen, hebt sich seine Hand zum frostigen Grusse, wenn ihm im Januar ein Motorrad begegnet, obwohl oder weil es schweineheiss ist. 21. Der Heilige Er besitzt den schwarzen Gürtel des Grüssens. Er weiss alles, sieht alles, hört und riecht alles. Knappe dreieinhalb Millionen Kilometer weisst sein Tacho aus, was ein hartes Stück Arbeit war, denn sechsmal ist ihm die Bohrmaschine heissgelaufen! Sein Untersatz stammt aus der Zeit, als Männer noch Männer waren und in merry old England noch richtige Motorräder gebaut wurden. Auf diesem treuen Bike ist er immer unterwegs, wenn er nicht einen belanglosen technischen Halt hat durch eine verbrannte Kupplung, eine gerissene Primärkette, versagende Bremsen, überhitzte Kolben, abgerissene Vergaser, verschmorte Elektrik, geplatztes Getriebe, zusammengebrochene Räder oder abhanden gekommenes Öl. Das seltene Erlebnis seines Grusses offenbart die Virtuosität des Heiligen, seine in jahrelangen Polieren edler Aluteile erworbene Kopf-, Gesichts- und Arschhaltung. Ebenso defekt wie sein Motorrad bildet er mit diesem eine Einheit und kommt Dir in dieser Funktion entgegen. Nun schaue nicht auf Hand oder Arm, denn diese werden sich nicht bewegen. Blicke vielmehr in das narbige Gesicht unter dem Halbschalenhelm, die Wangen mühsam mit Pinzette und Uhu mit Mückenteilchen geschmückgt. Der Yehudi Menuhin des Grusses wird Deiner ansichtig und mit einer Frequenz von zwei Hertz senken sich beide Augenlider und öffnen sich wieder – nur einmal! Wenn Du diesen unwiederbringlichen Moment verpasst, bist Du es nicht wert, jemals wieder einen Gasgriff zu berühren. DEN HEILIGEN GRÜSSEN, SEHEN UND STERBEN |